Gestern legte Maja ihren zehnminütigen Schulweg zum ersten
Mal ganz allein zurück. Seit dem ersten September geht sie in die zweite
Klasse. Der Unterricht findet in der „zweiten Schicht“ statt: die Schule
beginnt mittags und endet am späten Nachmittag. Vormittags besucht Maja an drei
Tagen in der Woche die Musikschule. Ich finde diese Reihenfolge gar nicht
schlecht: so ist die morgendliche Frische und Aufmerksamkeit der musikalischen
Ausbildung vorbehalten. Im ersten Lehrjahr gibt es die Fächer Chor,
Musiktheorie, Musikalische Literatur
und das eigentliche Hauptfach, in Majas Fall Klavier.
Die Musikschule Nummer
Eins in Ulan-Ude ist stolz auf ihre 70jährige Tradition. „Alle Kultur in
Burjatien hat mit uns begonnen“, erfahren die beim Elternabend versammelten
Väter und Mütter. Zwei ältere Pädagogen, geformt in sowjetischer Strenge und
Ordnung, erläutern, was sie von den Schülern erwarten: unbedingte Anwesenheit,
eine Entschuldigung von den Eltern bei Fehlen. Die achtjährige kostenlose
Ausbildung gilt als berufsvorbereitend, gelehrt wird nach einem straffen
staatlichen Programm, das keine Abweichungen zulässt, mit halbjährlichen
Prüfungs- und Konzertterminen. Das war mir so nicht klar: Ich hatte den
entspannten Hobby-Charakter einer deutschen Musikschule im Hinterkopf. Am Ende
unterzeichnen die Eltern noch eine Vereinbarung über einen freiwilligen
Monatsbeitrag von fünfhundert Rubeln: damit wenigstens Geld für Klopapier, Einweg-Trinkbecher
und Strom da sei.
Der Burjate Maxim, ehemaliger Bass-Sänger am Ulan-Ude’er
Operntheater, dem ich geholfen hatte, in Deutschland einen Studienplatz zu
finden, ist für eine Weile wieder hier in seiner Heimat. Wir machen einen
Ausflug an den Baikal, vorbei an zwei Klöstern und durch die Dörfer im
Mündungsgebiet der Selenga. Ich gebe ihm ein Exemplar der Zeitung Prawda – etwa das russische Äquivalent
zum Neuen Deutschland; ich weiß, dass
er bei den letzten Wahlen zum burjatischen Parlament, dem Narodnyj Chural, für die Kommunisten gestimmt hat.
Ob ich wisse, wer den Zweiten Weltkrieg gewonnen hat, fragt
mich Maxim.
Die vier alliierten Siegermächte, es sei doch wohl nicht
nötig, sie aufzuzählen, antworte ich verwundert.
Eigentlich habe die Sowjetunion den Zweiten Weltkrieg
gewonnen, sagt Maxim. Eine Tatsache, die die westliche Propaganda heute
verschweige.
Die Sowjetunion hatte unzweifelhaft die meisten Opfer, aber
war könne doch wohl kaum als alleiniger Sieger bezeichnet werden?
Die Westfront sei erst 1944 eröffnet worden, davor habe die
Sowjetunion praktisch allein gekämpft gegen Hitler, unter ihrem großen Führer
Stalin.
Wenn es nach Stalins Willen gegangen wäre, der erbarmungslos
Geistliche erschießen ließ, würde jetzt dort, wo wir jetzt gleich ein Kloster
sehen werden, ein kahles Feld sein!
Ohne Opfer gehe es eben nicht, dafür habe Zucht und Ordnung
geherrscht unter den Kommunisten; Stalin sei ein einfacher, armer Mann gewesen,
hingebungsvoll seinem Volke dienend, nicht so korrupt wie die heutigen
Politiker, und überhaupt wären die Menschen gleich gewesen, kein Vergleich mit
der heutigen Ungerechtigkeit. Er lese gerade Stalins Werke, sagt Maxim, und ob
ich ihm nicht helfen könne, die zweiundfünfzigbändige Lenin-Gesamtausgabe
irgendwo aufzutreiben?
Die kleine Maja möchte jeden Tag stundenlang auf dem großen
Spielplatz vor dem Haus spielen. Wenn sie aus der Schule kommt, müssen erst die
Hausaufgaben gemacht werden, bevor es ins Freie geht. Niso oder ich sitzen
dabei auf einer Bank am Rande und beobachten das Geschehen. Neulich kam ich
neben der zweiundachtzigjährigen Großmutter einer von Majas Spielplatz-Freundinnen
zu sitzen, eine ganz wache, kultivierte, sich in Würde haltende Frau. Sie erzählte
von Kriegszeiten, als sie mangels Schuhen durch den Schnee barfuß in die Schule
gehen musste, und vom guten Staatsmann Brezhnev, unter dem es für die einfachen
Leute immer Rabatte gab, der dann aber leider krank wurde und starb.
Und Stalin, frage ich. Erinnern Sie sich, als er starb? War
die Erleichterung im Volk groß?
Wovon ich sprechen würde, ruft die alte Dame und sieht mich
an, als die Meldung über das Ableben des großen Führers im Radio bekanntgegeben
wurde, haben die Menschen geweint, egal, wo sie gerade saßen oder standen! Eine
große Trauer habe das sowjetische Volk ergriffen!
Und von Repressionen haben Sie nichts mitbekommen?
Wie denn das, nichts mitbekommen! Ihr Vater sei erschossen
worden, als sie elf Monate alt war. Er hatte beim Telegrafenamt gearbeitet, und
jemand habe ihn denunziert. Wofür, warum? Niemand weiß es. Aber dafür kann doch
Stalin nichts, fügt sie nach einer Pause hinzu, er sei ein ganz einfacher Mann
gewesen, nicht mal ein eigenes Auto habe er gehabt. Die Repressionen, keiner
weiß es warum, vielleicht seien das die Leute vom KGB gewesen.
Niso und ich waren im SAGS – Zapis aktov grazhdanskovo sostojania, dem Gegenstück zum deutschen
Standesamt, um unsere geplante Eheschließung anzumelden. In dem kleinen Raum
sitzen oder stehen etwa zwölf Leute, so etwas wie Privatsphäre oder Diskretion
ist unbekannt. Wir treten an den Schalter und sagen „Einmal Heiraten, bitte“.
Unsere Dokumente werde kurz geprüft, die beglaubigte Übersetzung meines Passes und das im Potsdamer Standesamt eingeholte Ehefähigkeitszeugnis, dann bekommen wir ein kleines Zettelchen
mit den Daten des Kontos, auf welches wir eine Gebühr zu überweisen haben, je
nach Bedarf für den gewünschten Vorgang: Eheschließung 350 Rubel, Scheidung 650
Rubel, Namensänderung 1400 Rubel.
Mit dem Cello auf dem Rücken betrete ich die Katholische
Kirche, ein innen und außen in leuchtendem Weiß glänzendes, neues Gebäude.
Schwester Erika, eine polnische Nonne in schwarz-weißer Tracht, grüßt und erlaubt
mir gern, ein wenig zu spielen. Ich baue mich vor dem Altar auf und spiele aus Gabriellis
Sieben Ricercare für Violoncello solo, meine neueste Entdeckung, eine Art
Vorläufer der berühmten Bach-Suiten. Fantastische Akustik, die barocken Töne
schweben in großartiger Erhabenheit durch den Raum. Pater Adam, der Priester,
erscheint auf der Orgelempore, winkt mir zu und zeigt den nach oben gerichteten
Daumen. Ich hätte offensichtlich eine Menge Noten, sagt er mit seinem
unverkennbar polnischen Akzent, auf den Papierhaufen unter meinem Stuhl
deutend, ob ich nicht Lust hätte, zur Erbauung der Gemeinde und sonstiger Gäste
in Bälde ein Konzert zu geben? Aber doch gern! Pater Adam bittet zum Tee und
nebenbei noch darum, für ihn in Köln anzurufen und eine wichtige Sache zu
klären, es gehe um die Abrechnung der vor drei Jahren einem deutschen Bistum
geförderten Renovierung der Kirche; leider sei dort niemand des Polnischen oder
Russischen mächtig, ein Übersetzer komme gerade wie gerufen.
Nach dreimonatiger Pause hat der Arbeitsalltag an der
Universität begonnen. Kollegin Svetlana fragt mich, ob ich nicht Lust hätte, im
ersten Semester zu unterrichten, eine Gruppe von zwölf Studenten. Ich sage zu
und bereue es nicht: die jungen Leute sind noch frisch und motiviert, erhoffen
sich etwas vom Studium und erwarten einen interessanten Unialltag – ermüdet und
desillusioniert von haufenweise unnützen, langweiligen Nebenfächern, die mit
ihrem Hauptfach Deutsch nichts zu tun haben, werden sie erst in zwei oder drei
Jahren sein.
Ausflüge in die herbstliche Natur mit Maxim, Niso, Maja und Nisos Freundin Lena |
Kühe beim Durchqueren eines Wasserarmes am Baikalsee (oben). Tomaten werden grün geerntet und reifen zuhause nach (unten) |