"Immerhin habe ich das Strömende unserer Zeit in Rußland so stark gefühlt wie selten in meinem Leben." Stefan Zweig, Die Welt von Gestern
Ich stehe in Bargusin bei Sergej vor der Tür, einfach so, ohne Voranmeldung. In Russland ist es ganz legitim, spontan bei einem Bekannten aufzutauchen. Sergej öffnet die Tür zu seinem großen Gartengrundstück und freut sich, mich zu sehen. Ob vielleicht sein Telefon kaputt sei, möchte ich wissen. Er habe doch versprochen, mit mir zwei Tage in die Berge zu gehen, Ende August? Das wäre dann jetzt so weit.
Sergej
bittet mich, auf der Bank vor dem Haus Platz zu nehmen, setzt sich daneben und
kratzt sich nachdenklich am Kopf. Eigentlich gibt es ja zu tun: Heu einholen,
Kartoffenernte, und dann habe man ihm ein Arbeitsangebot gemacht, einen
Schafstall bauen, irgendwo im Norden des Tals. Aber gut, versprochen ist
versprochen, vielleicht gibt es ja wenigstens Beeren in den Bergen, meint er,
dann hat die Zeit, die wir dort verbringen, wenigstens auch einen Nutzen.
Mein
Gastgeber hat schnell seine Sachen zusammengesucht: einen aus Blech und Holz
selbstgezimmerten Kanister als Rucksack, ein Trinkgefäß mit Henkel, eine
Feldflasche, Brot, Gurken, Tomaten, einen Pullover und zwei Blaubeerkämme.
Unterdessen klagt mir seine Frau Mascha das neueste Unglück: die Ziegen auf der
Farm sind verschwunden. - Wahrscheinlich hat der dort wohnende Arbeiter, dieser
Taugenichts, sie vertrunken, abgegeben gegen Wodka, aber behaupten tut er
jetzt, die Wölfe hätten sie geholt. Diesen Penner muss man verjagen und lieber
ein junges Paar aufs Gut holen, aber finde erstmal jemanden, der da wohnen
will! - Mascha seufzt. Ich schultere meinen LoweAlpine-Rucksack mit Hightech-Daunenschlafsack
und zwei Schaumstoffmatratzen. Auf Zelt und Gaskocher verzichte ich bewusst:
ich möchte von Sergej lernen, am Feuer unter freiem Himmel zu übernachten.
Aufbruch!
Der Pfad,
dem wir folgen wollen, heißt „Weg zum sauberen Baikal“ und wurde schon vor
Jahren von jungen Freiwilligen der Organisation „Great Baikal Trail“ für
wandernde Touristen ausgebaut und mit Markierungen versehen. In etwa drei Tagen
gelangt man über den Bargusin-Bergrücken zum Baikalsee. Entweder, dort wartet
ein Boot auf einen, oder man geht den Weg wieder zurück, fünfzig Kilometer
durch Taiga und Bergtundra.
Zunächst
biegen wir falsch ab und folgen versehentlich einem schmalen Jägerpfad. Sergej
sieht sehr viel mehr als ich: umgeknickte Äste – offensichtlich war der Jäger
erst vor Kurzem hier; Axtmarkierungen an Baumstämmen, damit es auch im Winter
Orientierung gibt; Zobelfallen, im Moment deaktiviert, da noch keine Jagdsaison
ist: der den an einem Draht hängenden Lebendköder verspeisende Zobel wird von
einer zuschnappenden Schelle festgehalten und an einem langen, wie eine Wippe
befestigtem Ast mit Gewicht auf der anderen Seite nach oben geschleudert, wo
ihn kein anderes Tier anknabbern und der Jäger einsammeln kann – der Zobel, das
Gold Sibiriens, schon für die Pioniere seiner Erschließung im 17. Jahrhundert
Anreiz und Einkommen.
Später
folgen wir dem richtigen Weg, der trotz längst verblichener Markierungen und
einiger halb verrotteter, in Holz gefräster Schautafeln immer gut erkennbar bleibt.
Gegen Abend, nach etwa einem Kilometer Aufstieg, haben wir den Wald verlassen
und kommen auf den bloßen Fels. Der 62jährige Sergej ist am Ende seiner Kräfte.
Oben auf dem Pass wachsen mannshohe Latschenkiefern, dazwischen eine bereits
angelegte Feuerstelle. Zeit, das Nachtlager aufzuschlagen: mit Nadeln und
dünner Rinde entfacht mein Begleiter ein Feuer; ich packe meine kleine
Fiskars-Axt aus, neueste Technik, ideales Verhältnis von Gewicht zu Leistung
und so weiter, ein Geschenk von meinem Bruder, und mache mich daran, Brennholz
zu hacken. Sergej schüttelt den Kopf und zeigt, wie es richtig geht: nicht
gerade, sondern schräg ins Holz schlagen, von beiden Seiten. Dann noch ein paar
Zweige mit dichten Nadeln als Kopfkissen für die Nacht. Das Metallkesselchen an
einem Ast über die glühende Asche gehängt, nach wenigen Minuten kocht das
Teewasser. Abendbrot.
- Jaja,
Romantik, - stöhnt Sergej. - Wenn ich unten erzähle, dass wir einfach so zum
Spaß hier herumstiefeln, greifen sich die Leute an den Kopf. Touristen!
Das Wort
klingt aus seinem Mund merkwürdig abfällig, eine Bezeichnung für von
irgendwoher kommend Sonderlinge, Fremdkörper in der Taiga, die weder jagen, fischen
noch etwas sammeln.
Es wird
dunkel, ein windstiller, wolkenfreier Abend, Großer und Kleiner Wagen
erscheinen am Himmel, Kassiopeia und das Sommerdreieck, dann geht der Vollmond
über dem Felskamm auf und die Sterne verblassen. Sergej hüllt sich in den Rauch
der ihm aus Deutschland mitgebrachten Zigarillos, deren Geschmack er prüfend
mit dem seines selbst angebauten Tabaks vergleicht. Ewig reicht das Geld nicht,
zwölftausend Rubel Rente, davon fünftausend gleich weg an die Bank für einen
Kredit von früher, der Arbeiter auf der Farm möchte auch etwas zu Essen haben;
wenn er nach Ulan-Ude fährt, wollen alle Verwandten mit Geschenken versorgt
sein. Ewig dreht sich alles nur um das verfluchte Geld, eine Zeit lang habe er
mit dem Gedanken gespielt, in den Bergen auf Goldsuche zu gehen, es gäbe
Stellen, da sei es einfach aus dem Sand der Flüsse zu holen, aber jetzt,
verdammt, ist er zu alt dafür.
Ich lausche
seinen mit kräftigen Fluchwörtern durchmischten Worten und krieche in den
Schlafsack. Sergej schichtet dickere Stämme aufs Feuer und legt sich in
Pullover und Jacke einfach daneben. Vom Kondenswasser in der Luft wird mein
Daunenschlafsack von außen klitschnass, bleibt aber innen schön warm. Um vier
Uhr morgens ist das Feuer fast erloschen, mein Begleiter, der bis dahin wohl
kaum geschlafen und immer wieder nachgelegt hatte, schnarcht. Ich erhalte die
Flammen, hacke neues Holz und harre des Sonnenaufgangs.
Zum Frühstück verspeisen wir zwei von unbekannten Vorgängern hinterlassene Kartoffeln: in die heiße Asche geworfen, sind sie nach wenigen Minuten kohlschwarz und innen richtig durchgebraten.
Zum Frühstück verspeisen wir zwei von unbekannten Vorgängern hinterlassene Kartoffeln: in die heiße Asche geworfen, sind sie nach wenigen Minuten kohlschwarz und innen richtig durchgebraten.
Der anderthalb Kilometer hohe Pass war unser Ziel, wir machen uns auf den
Rückweg und finden dann doch noch Blaubeeren, auf dem Hang an der Baumgrenze. Die selbstgebauten Blaubeerkämme kommen zum Einsatz, nach einer Stunde
sind sieben Kilo zusammen, nun kehren wir wenigstens nicht mit leeren Händen
zurück. Weiter unten im Wald kommen wir an Sibirischen Zirbelkiefern vorbei –
von den Einheimischen von der gewöhnlichen Kiefer sofort zu unterscheiden; auf
der Erde unter ihnen liegen frische Zapfen, gefüllt mit leckeren Pinienkernen,
das klassische sibirische Exportgut aus der Natur. An einem frisch
herausgerissenen, von Wildbienen umschwirrten Totholz-Stamm machen wir Halt.
- Das war
gestern noch nicht, - sagt Sergej und beginnt rhythmisch mit dem metallenen
Beerenkamm an seinen Wanderstock zu schlagen. - Hier hat wohl ein Bär Honig
genascht!
- Wenn die
Bären hier Leute anfallen würden, hätte man wohl keinen Touristenpfad angelegt,
- meine ich, - sie wittern doch die Menschen und weichen ihnen aus?
- Klar, nur
unerwartet erschreckt zu werden mögen sie nicht…
Möglichst
geräuschvoll, klappernd und hin und wieder rufend laufen wir weiter. Gut, dass
meine Freundin nicht dabei ist, Bärenangst ist für sie im Wald immer ein Thema,
geht es mir durch den Kopf. Der Pfad geht nun an einem schnellen Flüsschen
entlang und verbreitert sich zu einem von Geländewagen befahrbaren Weg, wir
passieren die Reste eines hölzernen Staudammes – ein Wasserkraftwerk aus den
20er Jahren des letzten Jahrhunderts.
-
Holzdiebstahl, - kommentiert Sergej etwas später und weist auf einige Haufen chaotisch
durcheinanderliegender Stämme und Zweige, - normalerweise wird es nach dem
Fällen ordentlich aufgeschichtet und dann im Winter verbrannt. Jeder hat das Recht auf den Kauf von vierzig Kubikmetern Holz im Jahr, das sind etwa vierzig Bäume.
Wir
erreichen Bargusin. Mein Gastgeber übergibt unsere Beerenernte an die Frau, ich
sitze wenig später in seiner geheizten Banja.
Sergej erklärt mir die Funktionsweise einer Zobelfalle |
Beerenernte mit dem Blaubeerkamm |
Hier hat ein Braunbär Honig genascht |