Umsteigen am Moskauer Flughafen Domodedovo. Um 18.20 Uhr
deutscher Zeit landen wir, Uhr zwei Stunden vordrehen, heißt also zwanzig nach Acht.
Um 20.50 Uhr, in dreißig Minuten, ist Boarding-Schluss für den Anschlussflug nach Ulan-Ude. Niso,
Maja und ich rennen durch die kilometerlang scheinenden Gänge des riesigen
Flughafengebäudes, Passkontrolle, Green
Channel beim Zoll, Handgepäckdurchleuchtung. Punkt zehn vor neun stehen wir
am Abflug-Gate, mit uns wartet eine Gruppe munter zwitschernder japanischer
Touristen auf den Abflug nach St. Petersburg um halb Neun, für den das Boarding
noch nicht einmal begonnen hat. Halb neun? Ich schaue ungläubig auf meine Uhr
und fasse mich dann an die Stirn: die Zeitdifferenz zwischen Moskau und Berlin
beträgt wegen der Sommerzeit in Deutschland jetzt nur eine Stunde, ich habe um
eine Stunde zu weit vorgestellt. Ausatmen, entspannen. Umsonst gehetzt.
Warmer Wind und leichter Brandgeruch in der Luft, der
Taxifahrer erkundigt sich nach Angela Merkel, die sich ja in Brandenburg gerade
mit Putin trifft, ob wir Genaueres wüssten? Ich freue mich, nach einem Monat
Deutschlandurlaub wieder in der Heimat zu sein, oder besser: nach einem Monat
Heimaturlaub wieder in der Fremde zu sein. Vielleicht gibt es von Heimat doch
einen Plural? Vor ziemlich genau drei Jahren bin ich nach Ulan-Ude gezogen,
noch zwei Jahre stehen auf dem Plan. Ich sitze in unserer kleinen 2-Zimmer-Wohnung am Schreibtisch, das vertraute Rattern der Transsib-Züge dringt durch die geöffnete
Terrassentür, von dem einige Kilometer entfernten Bahnhof sind die
Lautsprecherdurchsagen zu hören. Auf Maja warten Schule und Musikschule, auf
Niso die Fahrschule, auf mich Kollegen und Studenten.
Mit den Eltern meiner Freundin unternehmen wir einen Ausflug
nach Gorjatschinsk, wir in unserem Samara,
Vater und Mutter in ihrem kleinen, schachtelförmigen Lada Schestjorka, in dessen
Motor alle halbe Stunde Wasser oder Tee gegossen wird, damit er sich nicht
überhitzt. Im Sanatorium erkundige ich mich nach Übernachtungsmöglichkeiten.
Auf keinen Fall empfehle sie uns, hier zu bleiben, sagt mir die Angestellte des
Sanatoriums am Registrierungsschalter, bei ihnen seien die Zimmer unbequem und
überteuert, mit einem privaten Gästehaus bei ihren Freunden wären wir viel
besser beraten, einen Moment bitte, sie rufe gleich dort an.
Nisos Vater Nikolaj, der sich vor etwa vier Monaten
verabschiedet hatte, um in seiner Heimat Tadschikistan den Lebensabend zu
verbringen, ist nach Burjatien zurückgekehrt. Wohl hat er verstanden, dass
seine Heimat längst Russland geworden ist, dort, wo Frau und Kinder leben; und
er hat auch verstanden, dass seine Tochter keinen Moslem heiraten wird. Zweiundfünfzig
Grad im Sommer und keine Arbeit, das halte er nicht aus, erzählt er mir
entspannt, später könne er zum Sterben immer noch nach Dushanbe fliegen. Zu
Ehren unserer Begegnung war zuhause bei ihm im Dorf extra eine Ziege geschlachtet worden, deren
frisches Fleisch nun abends auf dem Tisch steht; zu meiner großen Überraschung gibt
es selbstgebrannten Schnaps dazu. Mit dem Islam scheint es wohl doch nicht so
weit her zu sein, frage ich Niso später vorsichtig. Sie seufzt. In ihrer
Jugend, nach der Übersiedlung aus Tadschikistan, haben die Eltern Selbstgebrannten
an die Alkoholiker im Dorf verkauft, ein Jahr lang, um über die Runden zu kommen
- bis ihnen die nachts an die Fenster klopfenden heruntergekommenen Gestalten
zu viel wurden und sie das zweifelhafte Geschäft einstellten.
Eine von Nikolajs Lieblingsbeschäftigungen scheint die
Zubereitung von großen Mengen Plov zu
sein. Majestätisch wie ein Pascha steht er vormittags im dunkelgrünen Mantel am
Tisch neben der Feuerstelle vor unserem Gästehaus, wirft Reis in das Öl in das
schwere Metallgefäß über der Feuerstelle, schneidet in aller Seelenruhe Möhren
und zerkleinert Ziegenfleisch. Den Baikal kenne er aus dem Fernsehen, da müsse
er jetzt nicht unbedingt hin; während wir zum Ufer spazieren, kümmert er sich lieber
ums Mittagessen.