Mittwoch, 29. August 2018

Heimaten

Umsteigen am Moskauer Flughafen Domodedovo. Um 18.20 Uhr deutscher Zeit landen wir, Uhr zwei Stunden vordrehen, heißt also zwanzig nach Acht. Um 20.50 Uhr, in dreißig Minuten, ist Boarding-Schluss für den Anschlussflug nach Ulan-Ude. Niso, Maja und ich rennen durch die kilometerlang scheinenden Gänge des riesigen Flughafengebäudes, Passkontrolle, Green Channel beim Zoll, Handgepäckdurchleuchtung. Punkt zehn vor neun stehen wir am Abflug-Gate, mit uns wartet eine Gruppe munter zwitschernder japanischer Touristen auf den Abflug nach St. Petersburg um halb Neun, für den das Boarding noch nicht einmal begonnen hat. Halb neun? Ich schaue ungläubig auf meine Uhr und fasse mich dann an die Stirn: die Zeitdifferenz zwischen Moskau und Berlin beträgt wegen der Sommerzeit in Deutschland jetzt nur eine Stunde, ich habe um eine Stunde zu weit vorgestellt. Ausatmen, entspannen. Umsonst gehetzt.

Warmer Wind und leichter Brandgeruch in der Luft, der Taxifahrer erkundigt sich nach Angela Merkel, die sich ja in Brandenburg gerade mit Putin trifft, ob wir Genaueres wüssten? Ich freue mich, nach einem Monat Deutschlandurlaub wieder in der Heimat zu sein, oder besser: nach einem Monat Heimaturlaub wieder in der Fremde zu sein. Vielleicht gibt es von Heimat doch einen Plural? Vor ziemlich genau drei Jahren bin ich nach Ulan-Ude gezogen, noch zwei Jahre stehen auf dem Plan. Ich sitze in unserer kleinen 2-Zimmer-Wohnung am Schreibtisch, das vertraute Rattern der Transsib-Züge dringt durch die geöffnete Terrassentür, von dem einige Kilometer entfernten Bahnhof sind die Lautsprecherdurchsagen zu hören. Auf Maja warten Schule und Musikschule, auf Niso die Fahrschule, auf mich Kollegen und Studenten. 

Mit den Eltern meiner Freundin unternehmen wir einen Ausflug nach Gorjatschinsk, wir in unserem Samara, Vater und Mutter in ihrem kleinen, schachtelförmigen Lada Schestjorka, in dessen Motor alle halbe Stunde Wasser oder Tee gegossen wird, damit er sich nicht überhitzt. Im Sanatorium erkundige ich mich nach Übernachtungsmöglichkeiten. Auf keinen Fall empfehle sie uns, hier zu bleiben, sagt mir die Angestellte des Sanatoriums am Registrierungsschalter, bei ihnen seien die Zimmer unbequem und überteuert, mit einem privaten Gästehaus bei ihren Freunden wären wir viel besser beraten, einen Moment bitte, sie rufe gleich dort an.
Nisos Vater Nikolaj, der sich vor etwa vier Monaten verabschiedet hatte, um in seiner Heimat Tadschikistan den Lebensabend zu verbringen, ist nach Burjatien zurückgekehrt. Wohl hat er verstanden, dass seine Heimat längst Russland geworden ist, dort, wo Frau und Kinder leben; und er hat auch verstanden, dass seine Tochter keinen Moslem heiraten wird. Zweiundfünfzig Grad im Sommer und keine Arbeit, das halte er nicht aus, erzählt er mir entspannt, später könne er zum Sterben immer noch nach Dushanbe fliegen. Zu Ehren unserer Begegnung war zuhause bei ihm im Dorf extra eine Ziege geschlachtet worden, deren frisches Fleisch nun abends auf dem Tisch steht; zu meiner großen Überraschung gibt es selbstgebrannten Schnaps dazu. Mit dem Islam scheint es wohl doch nicht so weit her zu sein, frage ich Niso später vorsichtig. Sie seufzt. In ihrer Jugend, nach der Übersiedlung aus Tadschikistan, haben die Eltern Selbstgebrannten an die Alkoholiker im Dorf verkauft, ein Jahr lang, um über die Runden zu kommen - bis ihnen die nachts an die Fenster klopfenden heruntergekommenen Gestalten zu viel wurden und sie das zweifelhafte Geschäft einstellten.
Eine von Nikolajs Lieblingsbeschäftigungen scheint die Zubereitung von großen Mengen Plov zu sein. Majestätisch wie ein Pascha steht er vormittags im dunkelgrünen Mantel am Tisch neben der Feuerstelle vor unserem Gästehaus, wirft Reis in das Öl in das schwere Metallgefäß über der Feuerstelle, schneidet in aller Seelenruhe Möhren und zerkleinert Ziegenfleisch. Den Baikal kenne er aus dem Fernsehen, da müsse er jetzt nicht unbedingt hin; während wir zum Ufer spazieren, kümmert er sich lieber ums Mittagessen.