Vor unserem gemeinsamen Abflug nach Deutschland möchte ich meinem
Vater die Schönheiten des Bargusintals zeigen. 250 Kilometer nördlich von
Ulan-Ude, vom Baikalsee durch den alpenähnlichen Bargusin-Bergrücken getrennt,
eröffnet sich eine malerische steppengleiche Ebene mit interessanten
Felsformationen und geschichtsträchtigen Kulturdenkmälern wie dem jüdischen
Friedhof in der Siedlung Bargusin, der von den nach dem Aufstand in Polen 1830
hierher verbannten Juden Zeugnis ablegt. Als wir ankommen, ertönt auf dem
zentralen Platz gerade ohrenbetäubende Rap-Musik aus Lautsprechern von einer
vollständig leeren Bühne. An einem Eckhaus mit schön geschnitzten Fensterläden
ein Schild „Jedinaja Rossia“, die Partei Putins; ein Haus weiter ein Bild
Lenins und die Flagge der Kommunisten. Keine Menschenseele ist auf dem weiten
Platz zu sehen, die Sonne scheint lieblich vom Himmel. Wir bestaunen die
Bergkulisse und den erst im Vorjahr sorgfältig aufgestellten Panzer im Andenken
an die Heldentaten der Bargusiner im Großen Vaterländischen Krieg.
Zwei Nächte wollen wir auf dem Landsitz meines Bekannten Sergej
verbringen, der Saimka „Nedoroskowo“
unweit eines Flussarmes in des Tales Mitte. Bis in die dreißiger Jahre gab es
hier ein kleines Dorf, das im Zuge der Kollektivisierung aufgelöst wurde. Wir
helfen Sergej beim Tragen des Schlauchbootes zum Wasser, wobei uns Millionen
von Mücken das Leben erschweren. Das Kontrollieren der Netze fördert leider
keine Fische zutage. Zehn Minuten lang bleiben wir stehen und bewundern den
Sonnenuntergang über den Bargusin-Bergen. Später weist uns der Hausherr zum
Übernachten zwei eigens aufgestellte Betten in seinem ruinösen Hauptgebäude an
und stellt uns seinem Arbeiter Sergej vor, der täglich die Kuh melkt und die
Rinder auf die Weide treibt. Sergej und Sergej! Thomas und Thomas, sage ich,
auf meinen Vater weisend, und wir lachen.
Sergejs Landsitz war einmal eine blühende Vorzeige-Farm, sogar ein
Filmteam von Mosfilm sei einmal
gekommen, um eine Dokumentation zu drehen, erzählt uns der Hausherr stolz. In
den letzten zehn Jahren allerdings, nachdem die Bank alles einkassiert und
Verwandte seiner ersten Frau hier gelebt hätten, leider Alkoholiker, sei alles
ein wenig heruntergekommen, aber nun mache er sich ans Wiederaufbauen, und
schon im nächsten Jahr wolle er ganz offiziell Touristen empfangen.
Wir schauen uns um. Ein eingefallenes Gewächshaus, Fahrzeugschrott,
halb vom Wind verwehte Bretterzäune. „Wie ein verwunschenes Schloss“, sagt mein
Vater. „Nächstes Jahr Touristen? Der Mann wird hier bis zum Ende seines Lebens
nicht mehr fertig!“
Nach Einbruch der Dunkelheit verlässt uns der Hausherr und fährt zu
seiner Frau nach Bargusin, der Arbeiter verzieht sich in seinen Schuppen vor
den Fernseher. Wir wollen schlafen. Das Haus ist erfüllt von stickigem
Modergestank, die Fenster lassen sich nicht öffnen. Machen wir die Tür auf,
strömen Scharen von Mücken herein. „Ich schlafe im Auto, habe ich früher auch
oft gemacht“, sagt mein Vater, greift nach seinem Schlafsack und verzieht sich
nach draußen. Nach einiger Mühe nicke ich ein.
Gegen halb zwei Uhr klingelt das Telefon, Vater meldet sich von
zwanzig Metern weiter, aus dem Auto: zwei Rinder würden gerade das Fahrzeug
rammen, eins läge mit dem Kopf auf der Frontscheibe und er würde sich gerade
leicht unwohl fühlen, ob ich nicht bitte einmal nach draußen kommen könne. Wie wäre
es, wenn er sich zu mir ins Haus begäbe, bitte ich ihn, da zu faul, mein Bett
zu verlassen und zu den Mücken ins Freie zu gehen; vor Kühen brauche er doch eher
weniger Angst zu haben und könne sich gern auch in die Sommerhütte legen, vor der
wir zu Abend gegessen hätten. Ob ich mir das insektenzerfressende und
mäusebenagte Sofa dort näher angeschaut hätte, das wäre doch nicht im Ernst
meine Empfehlung, kommt die Antwort durchs Telefon aus dem Auto. Ich schlage
meinem Vater vor, zu mir ins Haus zu kommen, von den hundert Mücken hätte ich
schon etwa 20 erschlagen und gegen Morgen werde die Luft auch immer
erträglicher, da kühler. Dann würde er doch lieber die restliche Nacht im Auto
bleiben, die Kuh hätte gerade den Kopf von der Frontscheibe erhoben und sich
entfernt. Wir beenden die nächtliche Erörterung der Schlafvarianten und legen
auf.
Nach reiflichem Überdenken unserer Reiseplanung hätten wir uns
entschlossen, die nächste Nacht andernorts zu verbringen, sage ich am nächsten
Morgen freundlich zu Sergej, dem Arbeiter, und wir verlassen die Farm im Bargusin-Tal,
etwas eiliger als geplant.
Auf dem Rückweg halten wir an einer baufälligen kleinen Bretterverschlag
am Straßenrand, an dessen Rückseite ein ausgeblichenes blaues Schild angebracht
ist, auf dem in abblätternden weißen Buchstaben „Aeroport“ steht. Am anderen
Ende der dahinterliegenden, mit hohem Gras bewachsenen Wiese steht eine
neuartig glänzende Doppeldecker-Propellermaschine, laut Sergej ein Löschflugzeug;
davor ein weiß gekalktes Haus, wohl die Wohnung des Wächters, und noch einige
andere schwer einzuordnende schuppenartige Bretterbauten. Ich überklettere die
aus drei einfachen Balken bestehende Absperrung und stelle mir lebhaft vor, wie
ich um das weiße Haus herumlaufen und einen alten Burjaten vor diesem sitzend
antreffen würde, träge in der schwülen Mittagshitze an einer Flasche Wodka
nippend. Wann denn heute der nächste Abflug nach Ulan-Ude gehe, ich hätte in
der Abflughalle – dabei würde ich mit einer wissenden Handbewegung in Richtung
der kleinen Bretterbude am Straßenrand deuten – leider keinen aktuellen
Flugplan finden können, worauf der Wächter mich müde anblinzeln, ausspucken und
mit kratziger, des Redens ungewohnter Stimme krächzen würde: „Mein Freund, das
letzte Flugzeug ging 1997, seitdem ist hier vorrübergehend geschlossen“, mich
anschließend zum gemeinsamen Anstoßen auf die bald beginnende glorreiche
Zukunft der Republik einladend.
Doch die Wirklichkeit ist leider weniger prosaisch. Einen Burjaten
erblicke ich nicht, stattdessen trottet ein großer Schäferhund mit
zielgerichtetem Schweigen auf mich zu. Zügig und in gerader Linie bewege ich
mich auf den Zaun zu und bin im nächsten Augenblick wieder außerhalb des
Flughafengeländes.
Ältere Menschen wissen von regem Flugverkehr zu erzählen, erkläre ich
meinem Vater, als wir wieder im Auto auf dem Weg nach Ulan-Ude sitzen, zu
Sowjetzeiten flogen täglich kleine „Kukurusniki“ genannte Propellerflieger von
Ulan-Ude nach Gorjatschinsk, Ust-Bargusin, Bargusin und Kurumkan, aber diese
Zeiten sind längst vorbei, lediglich nach Sewerobaikalsk an der Nordspitze des
Baikals gibt es eine Flugverbindung, einmal pro Woche.
Morgen fliegen wir nach
Deutschland. Meinen Lesern wünsche ich einen schönen Sommer und begrüße sie hier wieder Ende August.
Im Bargusin-Tal: auf Sergejs Farm (oben), in den Felsen des "Sächsischen Schlosses" (unten) und am Flughafen (ganz unten) |