Dienstag, 17. Juli 2018

Russland extrem


Vor unserem gemeinsamen Abflug nach Deutschland möchte ich meinem Vater die Schönheiten des Bargusintals zeigen. 250 Kilometer nördlich von Ulan-Ude, vom Baikalsee durch den alpenähnlichen Bargusin-Bergrücken getrennt, eröffnet sich eine malerische steppengleiche Ebene mit interessanten Felsformationen und geschichtsträchtigen Kulturdenkmälern wie dem jüdischen Friedhof in der Siedlung Bargusin, der von den nach dem Aufstand in Polen 1830 hierher verbannten Juden Zeugnis ablegt. Als wir ankommen, ertönt auf dem zentralen Platz gerade ohrenbetäubende Rap-Musik aus Lautsprechern von einer vollständig leeren Bühne. An einem Eckhaus mit schön geschnitzten Fensterläden ein Schild „Jedinaja Rossia“, die Partei Putins; ein Haus weiter ein Bild Lenins und die Flagge der Kommunisten. Keine Menschenseele ist auf dem weiten Platz zu sehen, die Sonne scheint lieblich vom Himmel. Wir bestaunen die Bergkulisse und den erst im Vorjahr sorgfältig aufgestellten Panzer im Andenken an die Heldentaten der Bargusiner im Großen Vaterländischen Krieg.
Zwei Nächte wollen wir auf dem Landsitz meines Bekannten Sergej verbringen, der Saimka „Nedoroskowo“ unweit eines Flussarmes in des Tales Mitte. Bis in die dreißiger Jahre gab es hier ein kleines Dorf, das im Zuge der Kollektivisierung aufgelöst wurde. Wir helfen Sergej beim Tragen des Schlauchbootes zum Wasser, wobei uns Millionen von Mücken das Leben erschweren. Das Kontrollieren der Netze fördert leider keine Fische zutage. Zehn Minuten lang bleiben wir stehen und bewundern den Sonnenuntergang über den Bargusin-Bergen. Später weist uns der Hausherr zum Übernachten zwei eigens aufgestellte Betten in seinem ruinösen Hauptgebäude an und stellt uns seinem Arbeiter Sergej vor, der täglich die Kuh melkt und die Rinder auf die Weide treibt. Sergej und Sergej! Thomas und Thomas, sage ich, auf meinen Vater weisend, und wir lachen.
Sergejs Landsitz war einmal eine blühende Vorzeige-Farm, sogar ein Filmteam von Mosfilm sei einmal gekommen, um eine Dokumentation zu drehen, erzählt uns der Hausherr stolz. In den letzten zehn Jahren allerdings, nachdem die Bank alles einkassiert und Verwandte seiner ersten Frau hier gelebt hätten, leider Alkoholiker, sei alles ein wenig heruntergekommen, aber nun mache er sich ans Wiederaufbauen, und schon im nächsten Jahr wolle er ganz offiziell Touristen empfangen.
Wir schauen uns um. Ein eingefallenes Gewächshaus, Fahrzeugschrott, halb vom Wind verwehte Bretterzäune. „Wie ein verwunschenes Schloss“, sagt mein Vater. „Nächstes Jahr Touristen? Der Mann wird hier bis zum Ende seines Lebens nicht mehr fertig!“
Nach Einbruch der Dunkelheit verlässt uns der Hausherr und fährt zu seiner Frau nach Bargusin, der Arbeiter verzieht sich in seinen Schuppen vor den Fernseher. Wir wollen schlafen. Das Haus ist erfüllt von stickigem Modergestank, die Fenster lassen sich nicht öffnen. Machen wir die Tür auf, strömen Scharen von Mücken herein. „Ich schlafe im Auto, habe ich früher auch oft gemacht“, sagt mein Vater, greift nach seinem Schlafsack und verzieht sich nach draußen. Nach einiger Mühe nicke ich ein.
Gegen halb zwei Uhr klingelt das Telefon, Vater meldet sich von zwanzig Metern weiter, aus dem Auto: zwei Rinder würden gerade das Fahrzeug rammen, eins läge mit dem Kopf auf der Frontscheibe und er würde sich gerade leicht unwohl fühlen, ob ich nicht bitte einmal nach draußen kommen könne. Wie wäre es, wenn er sich zu mir ins Haus begäbe, bitte ich ihn, da zu faul, mein Bett zu verlassen und zu den Mücken ins Freie zu gehen; vor Kühen brauche er doch eher weniger Angst zu haben und könne sich gern auch in die Sommerhütte legen, vor der wir zu Abend gegessen hätten. Ob ich mir das insektenzerfressende und mäusebenagte Sofa dort näher angeschaut hätte, das wäre doch nicht im Ernst meine Empfehlung, kommt die Antwort durchs Telefon aus dem Auto. Ich schlage meinem Vater vor, zu mir ins Haus zu kommen, von den hundert Mücken hätte ich schon etwa 20 erschlagen und gegen Morgen werde die Luft auch immer erträglicher, da kühler. Dann würde er doch lieber die restliche Nacht im Auto bleiben, die Kuh hätte gerade den Kopf von der Frontscheibe erhoben und sich entfernt. Wir beenden die nächtliche Erörterung der Schlafvarianten und  legen auf.
Nach reiflichem Überdenken unserer Reiseplanung hätten wir uns entschlossen, die nächste Nacht andernorts zu verbringen, sage ich am nächsten Morgen freundlich zu Sergej, dem Arbeiter, und wir verlassen die Farm im Bargusin-Tal, etwas eiliger als geplant.

Auf dem Rückweg halten wir an einer baufälligen kleinen Bretterverschlag am Straßenrand, an dessen Rückseite ein ausgeblichenes blaues Schild angebracht ist, auf dem in abblätternden weißen Buchstaben „Aeroport“ steht. Am anderen Ende der dahinterliegenden, mit hohem Gras bewachsenen Wiese steht eine neuartig glänzende Doppeldecker-Propellermaschine, laut Sergej ein Löschflugzeug; davor ein weiß gekalktes Haus, wohl die Wohnung des Wächters, und noch einige andere schwer einzuordnende schuppenartige Bretterbauten. Ich überklettere die aus drei einfachen Balken bestehende Absperrung und stelle mir lebhaft vor, wie ich um das weiße Haus herumlaufen und einen alten Burjaten vor diesem sitzend antreffen würde, träge in der schwülen Mittagshitze an einer Flasche Wodka nippend. Wann denn heute der nächste Abflug nach Ulan-Ude gehe, ich hätte in der Abflughalle – dabei würde ich mit einer wissenden Handbewegung in Richtung der kleinen Bretterbude am Straßenrand deuten – leider keinen aktuellen Flugplan finden können, worauf der Wächter mich müde anblinzeln, ausspucken und mit kratziger, des Redens ungewohnter Stimme krächzen würde: „Mein Freund, das letzte Flugzeug ging 1997, seitdem ist hier vorrübergehend geschlossen“, mich anschließend zum gemeinsamen Anstoßen auf die bald beginnende glorreiche Zukunft der Republik einladend.
Doch die Wirklichkeit ist leider weniger prosaisch. Einen Burjaten erblicke ich nicht, stattdessen trottet ein großer Schäferhund mit zielgerichtetem Schweigen auf mich zu. Zügig und in gerader Linie bewege ich mich auf den Zaun zu und bin im nächsten Augenblick wieder außerhalb des Flughafengeländes.
Ältere Menschen wissen von regem Flugverkehr zu erzählen, erkläre ich meinem Vater, als wir wieder im Auto auf dem Weg nach Ulan-Ude sitzen, zu Sowjetzeiten flogen täglich kleine „Kukurusniki“ genannte Propellerflieger von Ulan-Ude nach Gorjatschinsk, Ust-Bargusin, Bargusin und Kurumkan, aber diese Zeiten sind längst vorbei, lediglich nach Sewerobaikalsk an der Nordspitze des Baikals gibt es eine Flugverbindung, einmal pro Woche.

Morgen fliegen wir nach Deutschland. Meinen Lesern wünsche ich einen schönen Sommer und begrüße sie hier wieder Ende August.

Im Bargusin-Tal: auf Sergejs Farm (oben), in den Felsen des "Sächsischen Schlosses" (unten) und am Flughafen (ganz unten)