Der Sommer ist die Zeit der Ausflüge
in die Natur. Russische Ausflugskultur sieht oft so aus: Man fährt mit dem Auto
an einen schönen Ort, packt Einweggeschirr, fettige Salate, viel Fleisch und
reichlich Alkohol aus, macht ein Lagerfeuer, dreht die Musik im Fahrzeug auf,
vergnügt sich so ein paar Stunden und fährt dann, seinen Müll an Ort und Stelle
hinterlassend, wieder nach Hause.
Ein Betriebsausflug an den
beliebten Hechtsee mit
Arbeitskollegen meiner Freundin, ganz normale Lagerarbeiter, unkomplizierte,
einfache Russen und Burjaten. Auf dem Hinweg im Bus gibt es Bier aus der
Flasche, man macht sich nicht die Mühe, zum Trinken an „heiligen Orten“
anzuhalten, wie es der schamanische Brauch verlangt. Baden, essen, trinken,
herumfluchen. Auf dem Rückweg, nachdem die Hälfte schon nicht mehr gerade gehen
kann, wird der 60-prozentige Selbstgebrannte ausgepackt, ein hochwertiges
Naturprodukt, leckerer als Wodka, nur mit Whisky zu vergleichen. Lautes Singen
und Grölen, dann erschöpftes Schweigen. Plötzlich passiert irgendetwas, man
brüllt sich an, wird handgreiflich. „Wenn ihr nicht trinken könnt, dann müsst
ihrs lassen“, schreit der Fahrer und fährt weiter. Ich bekomme Angst und flüchte
mich zu ihm nach vorn. „Na, das hättest Du nicht gedacht?“, meint er zu mir, während
die Prügelei hinter mir leicht abflaut. „Sowas passiert öfters. Wir können froh
sein, dass sie nicht mit Messern aufeinander losgehen.“ Spricht nicht unbedingt
für den Zustand der Gesellschaft, geht es mir durch den Kopf und ich bitte
darum, uns bei der nächsten Gelegenheit aussteigen zu lassen. -
Der Baikalsee, selbst 456 Meter
über dem Meeresspiegel gelegen, wird von allen Seiten durch Berge eingerahmt,
die ungefähr zwei weitere Kilometer aufragen. Keiner der Gebirgszüge hat einen
überregional bekannten Namen wie „Kaukasus“ oder „Altai“: im Süden das Chamar-Daban-Gebirge, im Westen der Sajan, an der Westküste das Primorski- und das Baikalski-Gebirge, im Nordosten der Bargusin-Rücken. Gerade sind Niso und ich von unserer für diesen
Sommer letzten Wanderung zurückgekehrt, die uns auf den Pik Tscherskowo (2090m) im Chamar-Daban
führte. Der Gipfel ist bei den Irkutskern recht beliebt – schön, dass es auch
noch einen anderen Typ von Ausflüglern gibt, Leute, die den 20 Kilometer langen
Weg durch Taigawald und baumfreie Höhen von Sljudjanka aus mit Rucksack und
Zelt zurücklegen. Mitte Juli ernähren Walderdbeeren und Zhimolost (die
länglichen blauen Beeren der Heckenkirsche) die Wanderer; die Zeit der Blau-
und Preiselbeeren ist noch nicht angebrochen.
Auf dem Rückweg besuchten wir
noch Bekannte von Niso in Wydrino, deren Garten im Wesentlichen aus einem
großen Erdbeerfeld besteht. Ein wesentlicher Zuverdienst im Sommer besteht für
die Familie darin, diese – und andere Waldbeeren – am Bahnsteig an Passagiere
der Transsibirischen Eisenbahn zu verkaufen. Für den Handel durch die geöffnete
Wagentür bleiben pro Zug – etwa drei sind es am Tag – genau zwei Minuten Zeit,
längere Halte gibt es nicht. Mich beeindruckte die 81jährige Prababushka, die Urgroßmutter, die im
Garten in der Sonne saß und friedlich ihrer Handarbeit nachging. Der
öffentliche Brunnen hinter dem Haus hat kein Wasser mehr, seit nach dem letzten
etwas größeren Erdbeben im Jahre 2008 der Grundwasserspiegel sank; man hat sich
auf dem Grundstück ein eigenes, tieferes
Brunnenloch angelegt. Seit einigen Jahren sinkt auch der Wasserspiegel des
Baikal, was in Wydrino allerdings erfreuliche Folgen hatte: wo früher nur
Geröllküste war, ist nun ein langer Sandstrand zum Vorschein gekommen.-
Übermorgen fliege ich nach
Deutschland. Ich freue mich auf grüne Wiesen und Laubwälder, auf guten Käse und
ordentliches Brot, auf saubere Fußwege, bequeme öffentliche Verkehrsmittel, auf
meine Verwandten und Freunde und darauf, meiner Freundin, die eine Woche später
nachkommt, mein Heimatland zu zeigen.
Die Urgroßmutter im Erdbeergarten |
Im Chamar-Daban-Gebirge - im Hintergrund der Baikal (oben) |